Eine Szene hat sich Hanna Schulz vom Bündnis „Sächsische Schweiz-Osterzgebirge gegen rechts“ ins Gedächtnis gebrannt: Am Tag nach dem ersten Wahlgang zum Oberbürgermeister von Pirna hatten die Freien Sachsen um den Neonazi Max Schreiber in die sächsische Kreisstadt mobilisiert. Ihre Demo zog an dem Montagabend Ende November mit Reichsfahnen, Flaggen der Freien Sachsen und der „Heimat“, wie sich die NPD heute nennt, völkischer Musik und Kuhglockenlärm unter dem Motto „Keine Ruhe den Altparteien“ durch die 40.000-Einwohner-Stadt zwischen Dresden und der tschechischen Grenze.

Die Neonazi-Demo endete vor dem Kreistag und der benachbarten NS-Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. Also exakt dort, wo die Nazis systematisch 14.720 psychisch Kranke und geistig behinderte Menschen in der Vernichtungsaktion „T4“ ermordeten. Die Asche der Vergasten und Verbrannten verteilten sie auf dem Hügel hinter den bis heute teils erhaltenen Gebäuden.

An jenem Montag wurde der Demozug der Freien Sachsen genau hier von AfD-Unterstützern empfangen. Eigentlich gibt es in der Partei einen Unvereinbarkeitsbeschluss zu den Freien Sachsen und zur NPD, respektive der „Heimat“, sowieso. Hier, vor der NS-Gedenkstätte, übten die Demonstrierenden allerdings den offenen Schulterschluss. Auch mehrere AfD-Kreistagsabgeordnete schlossen sich dem Protest an. Schulz sagt: „Es war fürchterlich – und trotzdem versuchen Leute hier immer noch, das Problem mit dem Rechtsruck wegzudiskutieren.“

Tags zuvor hatte der AfD-Kandidat Tim Lochner beim ersten Wahlgang der Oberbürgermeisterwahl von Pirna mit knapp 33 Prozent die meisten Stimmen geholt. Weil er die absolute Mehrheit verfehlte, wird kommenden Sonntag noch mal gewählt. Diesmal reicht laut sächsischem Kommunalwahlgesetz, das keine Stichwahl vorsieht, eine einfache Mehrheit. Nun droht der Einzug der rechtsextremen und geschichtsrevisionistischen AfD ins Rathaus. Lochner wäre bundesweit der erste Oberbürgermeister der AfD.

„Nie wieder CDU“ funktioniert hier nicht

Hanna Schulz, die mit ein paar Dutzend Personen gegen die Neonazi-Demo protestierte, heißt eigentlich anders, will aber ihren richtigen Namen aus Angst vor rechten Drohungen nicht in der Zeitung lesen. Sie klingt ernüchtert, wenn sie erzählt, wie tiefgreifend der Rechtsruck in ihrer Region ist – etwa wenn der rassistische Demoaufruf der Freien Sachsen in nahezu jeder Familien-Chatgruppe der Region lande und 3.000 Menschen in einem kleinen Kurort wie Berggießhübel gegen Geflüchtete demonstrieren.

Einige aus ihrem erst im August überwiegend von Schülern gegründeten Bündnis trauten sich damals im September nicht gegen die Freien Sachsen zu demonstrieren, weil sie Angst hatten, Verwandte, Nachbarn oder Freunde auf der Gegenseite zu treffen – und erkannt zu werden und danach als Nestbeschmutzer zu gelten „oder gleich von Oma enterbt zu werden“, sagt Schulz.

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Zerwürfnis im demokratischen Lager

Helfen dürfte Lochner im zweiten Wahlgang aber vor allem das Zerwürfnis im restlichen politischen Lager. Denn Lochners Konkurrenz nimmt sich die Stimmenanteile möglicherweise gegenseitig weg: Neben Ralf Thiele von den Freien Wählern tritt für die CDU Kathrin Dollinger-Knuth an, die im zweiten Wahlgang auch von SPD, Linken und Grünen unterstützt wird.

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Auf taz-Anfrage sagt Bärbel Falke, Sprecherin der Grünen Pirna, es sei dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass der Dreikampf am Ende der AfD nutzen könnte: „Es ist ein Tanz auf Messers Schneide.“ Unterm Strich habe man sich aber für die Unterstützung von Dollinger-Knuth entschieden – die sei eine „wirkliche Demokratin, die sich klar von rechts abgrenzt und bereit ist für breitere Bündnisse der Stadtgesellschaft“, so Falke.

Ähnlich positionierten sich auch Linke und SPD, deren Kandidat Ralf Wätzig der taz sagte, dass es einige Stimmen gegeben hätte, die weder Thiele noch Lochner für wählbar hielten. Dollinger-Knuth hingegen habe als Person immer einen respektvollen Umgang gepflegt und unterstütze eine Vielzahl sinnvoller Ideen für Pirna, so Wätzig: „Sicher vereint dieses breite Bündnis das Minimalziel, einen AfD-Oberbürgermeister für Pirna zu verhindern.“

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  • @Haven5341OP
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    fedilink
    Deutsch
    10
    edit-2
    7 months ago

    An jenem Montag wurde der Demozug der Freien Sachsen genau hier von AfD-Unterstützern empfangen. Eigentlich gibt es in der Partei einen Unvereinbarkeitsbeschluss zu den Freien Sachsen und zur NPD, respektive der „Heimat“, sowieso. Hier, vor der NS-Gedenkstätte, übten die Demonstrierenden allerdings den offenen Schulterschluss. Auch mehrere AfD-Kreistagsabgeordnete schlossen sich dem Protest an.

    “Wehret den Anfängen” und “Nie wieder” sind mehr so Folklore Dinger, oder? Kommt mal irgendeine Idee von Scholz oder Merz oder so? Irgendwas? Ich meine, die Union hat das “Supergrundrecht Sicherheit” erfunden. Das gilt nicht für Lesben und Schwule? Für Muslime und Juden? Für Migranten und Linke? Für … Das gilt nur für die konservative, heterosexuelle Norm-Bevölkerung mit Ariernachweis?

    • @heeplr
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      fedilink
      Deutsch
      17 months ago

      Das gilt nur für die konservative, heterosexuelle Norm-Bevölkerung mit Ariernachweis?

      Vorerst… Immer nur vorerst.